03 November, 2004

Ich werde geschult

9:30
Sitze gerade seit einer halben Stunde in meiner ersten offiziellen Schulung: „Export A-Z“. Gerade eben ging die Einleitung unseres Dozenten zuende (wie die Ehe seiner Eltern im Osten scheiterte, wie zuerst sein Vater und dann seine Mutter in den Westen gingen, wie sie dort dann wieder geheiratet haben, wie er derweil im Osten Maschinenbau studierte, obwohl er viel lieber etwas mit Sprachen gemacht hätte, wie er dann nach dem Studium –ca. 1960- ebenfalls in den Westen geflohen ist, und das ganze endete mit seinen täglichen S-Bahn-Fahrten von Ratingen nach Essen) und es ist jetzt schon klar: dies wird ein laaaanger Tag. Der Dozent Herr Völkel ist nämlich eine Mischung aus Piet Klocke und meinem ehemaligen Berufsschullehrer Herr Dammann plus thüringischen Akzent (NICHT sächsisch, darauf legt Herr Völkel großen Wert) und Zeigestock. Hört sich ganz amüsant an, allerdings nutzt sich der Unterhaltungswert exponentiell ab und ist nach 20 Minuten nicht mehr vorhanden. Als nach einer halben Stunde noch ein Nachzügler kam, begrüßte ihn Herr Völkel mit den beruhigenden Worten, er habe auch noch gar nichts verpaßt. Herrn Völkels erster großer Lacher. Unfreiwillig, aber dafür von Herzen kommend.

10:50
Die erste Pause ist seit ein paar Minuten vorbei und ich wünschte, ich hätte eine Sookie oder eine Lorelai bei mir, so daß wir dieses Papierdings machen können. Keiner hier will mit mir Tic-Tac-Toe spielen! Aber immerhin sitze ich in der halbwegs witzigen Ecke (oder eher „die am wenigsten langweilige Ecke), die Jungs neben mir imitieren die ganze Zeit Piet Klocke oder Herrn Völkel (das kann man nicht so genau auseinanderhalten), aber den Dozenten stört diese unterdrückte „prrrffffttt“ nicht, das da die ganze Zeit aus unserer Ecke kommt. Ist irgendwie wie in der Schule hier- und wie immer sitze ich in der Unruhe-Ecke. Dabei kann ich gar nichts dafür- als ich mir diesen Platz ausgesucht hatte, saß da noch keiner, die kommen immer zu mir. Genau wie Geraldine im zweiten Jahr Berufsschule- bevor sie in die Klasse kam, war mein Durchschnitt eine solide 2,3 – 2,5; dann kam Geraldine, und plötzlich wurde ich immer an einen Extratisch gesetzt, mir wurden Bücher wegkonfisziert und mein Notenspiegel sank um eine ganze Note.

11:04
Unglaublich, wie sehr dieser Typ Piet Klocke ähnelt! Brüder? Eigentlich sollte man ihn ja fragen... aber ich fürchte, dann brechen hier alle Leute zusammen. Die „Herrschaften“-Witze machen nämlich ganz offensichtlich die Runde.

11:09
Gerade ist einer aufgestanden und hat eilenden Schrittes den Raum verlassen! Ein Fluchtversuch! Das erste Anzeichen von Intelligenz! Oder ist es Selbsterhaltungstrieb?

11:12
Der entsprungene Schulungsteilnehmer ist wohl gefaßt worden und gerade wieder reingekommen. Trotzdem- er durfte drei Minuten der Freiheit genießen. Ich bin ein bißchen neidisch auf ihn. Ich würde es ja auch versuchen, aber meine gesamte untere Körperhälfte hat den Widerstand aufgegeben und ist eingeschlafen.

11:20
Ich habe zwar den Film „Der Längste Tag“ nicht gesehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es darin um eine Schulung geht. Mit Anlehnungen an Sartre’s „Huis Clos“- die Hölle, das sind die anderen. Mein Gott, sind Leute in meiner Branche spießig! Moment- ich fürchte, ich bin selbst spießig. Aber dafür überlege ich, ob ich heimlich „Offspring“ vom MP3-Player hören soll, das tun die anderen bestimmt nicht.

11:34
Habe ich gerade gesagt, daß es hier wie in der Schule ist?? Momentan haben wir Englisch: vor uns liegt ein Text, und jeder muß reihum einen Satz vorlesen. Aber Herr Klocke wäre einer von den Lehrern, die dein Freund sein wollen- er lobt jeden Vorleser einzeln, das nenne ich mal Motivation.

11:52
Herr Klocke betont jetzt zum 4. Mal, daß es ihm ein großes Anliegen ist, unseren Enthusiasmus für den Export zu wecken. Komisch- mein Enthusiasmus für den Export schmilzt gerade immer weiter dahin. Aber dafür hat er ja genug Enthusiasmus, daß es auch für uns alle reicht.

13:02
Die Mittagspause war viel zu kurz. Ich war ja dafür, daß wir um 12:30 aufhören und um 13:00 irgendwann in 2006 wieder anfangen, aber auf mich hört ja keiner.

Spricht man Hyundai eigentlich wirklich „Hüh-Un-Dai“ aus? Ich dachte immer, es wäre eher so wie „(h)Jundai“. Aber was weiß ich denn schon. Herr Klocke hat schließlich ungefähr 90 Jahre lang irgendwelche Kraftwerke in Saudi-Arabien gebaut, der weiß sowas bestimmt besser. Übrigens, bei den Saudis muß man pingel-pangel-pingelig sein, sonst erlebt man da haufenweise wilde Schtorries. Ich dachte, ich laß‘ Euch mal an Piet Klocke’s Lebensweisheiten teilhaben.

13:16
Meine Witzjungs sind immer noch nicht aus der Mittagspause wieder zurückgekommen. Mir ist auch gerade aufgefallen, daß sie ihre Sachen mitgenommen haben- sie sind getürmt! Und sie haben mich nicht mitgenommen! Typisch Männer! Da braucht man sich wirklich nicht zu wundern, daß ich lieber weiter solo bin. Und von alleine habe ich die Gelegenheit zur Flucht natürlich nicht erkannt und sie infolgedessen auch nicht ergriffen. Ich Blöd. Das hab‘ ich nun davon.

13:20
Piet diktiert uns gerade Vokabeln, ohne die wir total aufgeschmissen und dem Untergang geweiht wären. Und zwar teilt er ganz bewußt keine Kopien seines Blattes aus, nein, Piet gibt uns diese Gelegenheit, damit wir endlich mal unsere Hirne ausschalten können. Unfreiwilliger Lacher Nummer 2, aber erst nach einiger Verwirrung- hatte er von uns erwartet, daß wir unsere Hirne benutzen? Aber wofür denn bloß?

13:36
Die Vokabeln waren der letzte Müll- die hatten wir sogar schon in der Berufsschule, und Gott weiß, daß die Leutchen da nicht wirklich begnadete Englisch-Genies gewesen sind. Ich werde aggressiv. Ich will die Mauer wieder aufbauen! Aber ich bin ja genügsam- eine Mauer nur um Piet herum würde mir ja schon reichen, sofern sie nur hoch genug ist.

14:17
Wie das Leben so spielt. Heute morgen bin ich hier hereingekommen und habe mir gewünscht, ich sei nüchtern. Und jetzt wünschte ich, ich wäre betrunken.

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